Wer ist wichtiger – Ich oder Es?

 

Von einer seiner Reisen in die Welt hatte der Schmetterling eine Frage mitgebracht, die viele – und ihn auch – brennend beschäftigte. Mit dieser Frage konfrontierte es nun beim Wiedersehen das kleine blaue Männchen sofort. „Du, sag mal, was findest du eigentlich wichtiger“, fragte es, „Ich oder Es?“ Kopfschüttelnd ob dieser Frage, aber ganz spontan trompetete das kleine blaue Männchen: “Das ist doch klar, Ich natürlich!“

„Ist das so klar, wieso eigentlich?“ beharrte der Schmetterling. „Weil ich Ich bin! Deshalb!“ kam es selbstsicher zurück. „Und was heißt das?“ blieb der Schmetterling unerbittlich. „Das Ich macht mich aus, heißt das. Das Ich nehmen alle wahr, du doch auch, und wenn man mich mag, mag man das Ich – so ist das, und deshalb ist das Ich das Wichtigste überhaupt“, triumphierte das kleine blaue Männchen. „Ich glaube, du musst mir schon etwas genauer erklären, wie du das meinst. Bist du denn nur, was alle anderen wahrnehmen? Das würde doch bedeuten, dass du immer nur bist, was andere wahrnehmen – und, das kann sehr verschiedenartig sein“, meinte der Schmetterling sehr nachdenklich.

„So meine ich das nicht, mein Ich ist nicht nur da wegen der anderen. Es gehört mir und ich gehöre ihm, und damit trete ich nach außen, so habe ich das gemeint.“ „Aber was ist es denn nun?“ blieb der Schmetterling beharrlich.

„Es ist Struktur, das fällt mir als erstes ein, halt das, was innen in der Nussschale des kleinen blauen Männchens ist, so etwas wie der Kern meiner Persönlichkeit, so stabil und einzigartig. Deshalb muss es das Wichtigste sein, kannst du das verstehen?“ sagte das kleine blaue Männchen sehr fest. „Du meinst also, das Ich ist das, was dich von anderen unterscheidet, was dich einzigartig und damit auch liebenswert macht?“ „Ja, so meine ich es!“ bestätigte es.

„Aber du hast doch immer gesagt, dein unendlicher Zauber macht dich liebenswert und einzigartig. Ist er das Ich?“ wollte der Schmetterling wissen. „Ja.... nein.... – ich weiß nicht, irgendwie vielleicht doch nicht“, stotterte das kleine blaue Männchen etwas verunsichert. „Sag mir, was ist er?“ „Ich denke, er ist mehr als nur dein Ich, er kommt aus dem Es, deshalb ist es ja auch ein Zauber“, erwiderte der Schmetterling. Der Zauber ist tief in uns, er ist nicht bewusst, er ist nicht Struktur, er wurzelt im Blau und nicht im Rot.“ Und das Blau ist das Es?“ wollte das kleine blaue Männchen wissen. „Nein, das glaube ich nicht“, meinte der Schmetterling sehr nachdenklich, „nein, so nicht. Das Blau gehört zum Es.“

„Aber nur, weil ich im Blau geborgen war, bin ich doch heute Ich, darüber haben wir doch so oft gesprochen“, rief das kleine blaue Männchen ganz aufgeregt, „also muss das Blau doch Ich sein, es muss! Es ist doch das, was ich wiedergefunden habe, mein Ich.“

„Es ist nicht Ich, es gehört zu deinem Ich, und das ist, glaube ich, etwas ganz anderes. Es ist das Es in deinem Ich“, versuchte der Schmetterling zögernd eine Antwort. „Das verstehe ich nicht“, sagte es nachdenklich, „bitte, lieber Schmetterling, erkläre mir, was das Es ist. Wie kann es in meinem Ich sein?“ wollte es wissen. „Langsam, mein kleines blaues Männchen, lass mich eins hinter dem anderen erläutern, nicht alle Fragen auf einmal! Womit fangen wir an?“ „Also, bitte, erkläre mir das Es.“ „Ich habe eben gesagt, dass das Es unbewusst ist, tief in uns, aber wir wissen nicht darum. Alles, was uns antreibt, was wir wünschen und unsere Gefühle kennen wir oft nicht, und das alles ist in unserem Es. Aber noch wichtiger ist, dass alles, was wir vergessen oder gar nicht wahrhaben wollten, in ihm schlummert wie ein schlafender Löwe, immer bereit zuzuschlagen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“ „Das heißt, dass wir ganz vieles in uns nicht kennen? Um ganz vieles in uns nicht wissen? Ist dann nicht das Ich doch wichtiger, weil es weiß?“ Der Schmetterling lächelte über den Eifer des kleinen blauen Männchens. „Das wäre es, wenn das Es nicht so viel Macht über unser Ich hätte. Erinnere dich, du bist krank geworden, weißt du noch wie das war?“

„Nie werde ich das vergessen“, rief das kleine blaue Männchen ganz aufgeregt, „nie, nie! Es war furchtbar, ich war gar nicht mehr ich, mein Ich konnte ich nicht wiederfinden.“ „Und woher hast du die Kraft genommen, den langen Weg durch die Welten zu gehen, und was heißt das überhaupt: durch die Welten gehen?“ Nach langem Nachdenken erwiderte es: „Die Kraft hat mir gegeben, dass ich im Blau geborgen war, und das Blau ist im Es, hast du eben gesagt. Aber dann...“, es stockte, schwieg lange und fuhr dann sicherer werdend fort: „aber dann habe ich meine Gesundheit ja im Es gefunden, ich bin in es eingetaucht, meinst du, so war das?“ „Ja“, sagte still der Schmetterling, „ich denke, es war so. Du hast das Es in dir zugelassen mit all seinen Wünschen, mit all dem, was du nie wissen wolltest, du hast es in dich aufgenommen und nicht mehr geleugnet. Wer das Es leugnet, wird krank, und deshalb finde ich das Es so wichtig, wichtiger als das Ich“, schloss der Schmetterling seine Erklärung.

Beide schwiegen eine ganze Weile, dachten über das Gehörte nach und ließen es auf sich wirken. Dann sagte das kleine blaue Männchen: „Das kann so nicht sein, nur mit dem Es könnten wir nicht leben. Wir brauchen das Ich, denn es kontrolliert uns und außerdem – ohne das Ich könnten wir gar nicht in der Welt leben, da würden wir uns gegenseitig nicht aushalten können, nur mit dem Es.“ Nachdenklich senkte es den Kopf, ratlos, wie denn nun die Frage zu entscheiden sei. Plötzlich leuchteten seine Augen auf und lebhaft rief es: „Ich war im Blau geborgen, weil ich das Es in mir zugelassen habe. Und dann, dann war ich ja noch gar nicht gesund, dann bin ich ja noch durch die Welten gegangen. Weißt du, was das heißt?“ Der Schmetterling schüttelte nur stumm seine Flügel, verdutzt über den Eifer des kleinen blauen Männchens. „Das heißt, dass ich das Es mitgenommen habe in mein Ich, ich habe es in mir, im Ich, zugelassen, es aufgenommen in mein Ich. Mein Ich und mein Es haben begonnen, Freunde zu werden wie du und ich, Freunde, die sich nicht immer verstehen, die aber wissen, dass sie alleine nicht können. So bin ich gesund geworden.“ Staunend schaute der Schmetterling es an. Ganz langsam sagte er dann: „Dann war sie völlig unsinnig, meine Frage, wer denn nun wichtiger sei. Freunde sind gleichberechtigt, auch wenn sie ganz verschieden sind, aber einer allein kann nie Freund sein.“ „Ja, und einer allein – Ich oder Es – ist nie ganz“, lachte das kleine blaue Männchen, nahm den Schmetterling auf seine Faust und hüpfte fröhlich davon.